Menschlichkeit. Sei menschlich. Sei ein Mensch. Wörter mit einer klaren positiven Konnotation. Mensch sein bedeutet mitzufühlen, zu helfen, zu lieben. Unmenschlich ist Gewalt, Hass, Krieg. Mit dem Wort Mensch grenzen wir uns von Tieren ab. Wir haben Regeln, Verträge, Gesetze, um unser Zusammenleben friedlich zu gestalten. Wir haben Kultur. Wir sind Menschen. Aber etwas geht nicht ganz auf. Die Tiere - die Bestien - töten ihre Beute zum Selbsterhalt. Was ist unser Grund? Mit was rechtfertigen wir – wir Menschen - Gewalt, Kriege, die Millionen von Toten?
Wir sind kreativ. Wir sind Meister im Rechtfertigen des Unverzeihbaren. Wir leben mit Regeln, um uns vor uns selbst zu schützen. Denn nichts ist für den Menschen so gefährlich wie der Mensch. Nichts kommt dem Maße an Gewalt und Brutalität, welche wir verübt haben, auch nur ansatzweise nahe. Keine Krankheit, keine Naturkatastrophe, kein Tier.
Homo sapiens. Der verstehende Mensch. So wissend, so verstehend, dass wir Waffen erschaffen haben, die uns alle mehrfach ausrotten können. Wir haben keine Krallen – nur sauber geschnittene Nägel, keine scharfen Reißzähne – nur weiße, teuer in Takt gehaltene Zähne. Stehend auf zwei dünnen Beinen, mit Haut nicht dicker als eine Folie, laufen wir durch eine Welt, die wir uns untertan gemacht haben.
Wir sind es, wir Menschen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Wir sind das Unmenschlichste, was dieser Planet hervorgebracht hat. Der Mensch ist das Maledictum seiner selbst. Warum also ist Menschlichkeit ein so positiver Begriff? Menschlichkeit tötet Menschen. Homo homini lupus. Aber es gibt im Menschen eine paradoxe Dichotomie. Wir sind befähigt bedingungslos zu lieben und in aller Brutalität zu hassen. Nur der Mensch kann den Menschen vom Mensch retten.
Am 12. August 1944 richteten deutsche Soldaten ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung in dem italienischen Dorf Sant‘Anna di Stazzema an, bei dem mehr als 500 Menschen brutal ermordet wurden. Das eigentlich nur aus etwa 300 Bewohnern bestehende Dorf beherbergte hunderte Flüchtlinge. Die Deutschen wurden von italienischen Faschisten nach Sant‘Anna geführt. Die Männer, Frauen und Kinder wurden am Morgen aus ihren Häusern getrieben oder noch dort erschossen. Etwa 140 Menschen wurden auf dem kleinen Kirchplatz zusammengetrieben und von den Soldaten mit Maschinengewehren erschossen.
Die Leichenberge wurden mit Benzin übergossen und angezündet. Zusammen mit Holzmöbeln, damit das Feuer schneller brannte. Die Körper waren so entstellt, dass man sie zum Teil nicht mehr identifizieren konnte.
Ganze Familien wurden an diesem Tag ausgelöscht, ihre Häuser angezündet und abgebrannt. Babys in den Armen ihrer Mütter erschossen. Viele junge italienische Männer, die gerade erst aus dem Krieg zurückgekehrt waren, gerade erst wieder mit ihrer Familie vereint worden waren, hatten sich im Wald versteckt, aus Angst deportiert zu werden. Niemand hatte damit gerechnet, dass die deutschen Soldaten für die Frauen, Kinder und Alten eine physische Gefahr sein würden. Als sie aus ihrem Versteck im Wald zurück ins Dorf kamen, fanden sie ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Eltern auf dem brennenden Leichenberg.
Mehr 560 Ermordete. 130 Kinder. Menschen. Von Menschen umgebracht.
Nie wieder Sant’Anna. Nie wieder Shoa.
Geschichte darf sich nicht wiederholen.
Aber der menschliche Hass ist keine Geschichte.
Der 7. Oktober. Be’eri, Nir Oz, Kfar Aza. Vergewaltigung als Kriegswaffe. Butscha. Der Völkermord an Jesid*innen im Irak.
Die Menschlichkeit des Menschen kennt keine Grenzen. Das zu verleugnen ist nicht nur unsinnig, sondern äußerst gefährlich, Man muss der Bosheit des Menschen ins Auge schauen, um sie bekämpfen. Und es reicht nicht nur keine Gewalt zu verüben. Die böse, ich gut. Nichts tun kann einen sogar zum Täter machen. Je mehr Hass es gibt, desto mehr Liebe braucht es. Uns jeden Tag bewusst für sie zu entscheiden. Zuzuhören, zu helfen, Diskrepanz zu ertragen. Sich dem Dialog stellen. Immer. Auch wenn es unbequem ist.
Am 12. August entschied sich ein deutscher Soldat gegen die Gewalt. Er wies vier Familien an, zu fliehen und schoss in die Luft. Ein Mensch, der Menschen vor Menschen rettete. Nur einer. Von hunderten. Aber es gibt immer die Möglichkeit etwas zu tun. Der Gewalt zu trotzen. Nie wieder ist jetzt. Nie wieder bist du. Menschlichkeit als einziger Schutz, als einzige Waffe gegen Menschlichkeit.